Für nahezu jede betriebswirtschaftliche Herausforderung gibt es heute ein passendes Standard-IT-Tool. Daher wird oft und schnell entschieden, ein solches anzuschaffen, um das eigene Unternehmen zu digitalisieren. Doch wer so vorgeht, verschwendet unnötig viele Ressourcen und wird höchstwahrscheinlich scheitern.
Neue Technologien, wie aktuell die Blockchain oder Künstliche Intelligenz, eröffnen Unternehmen neue Chancen und ermöglichen Effizienzsteigerungen sowie innovative Geschäftsmodelle. Unternehmen müssen deshalb technologische Trends aktiv verfolgen, fortlaufend auf Einsatzmöglichkeiten prüfen und gegebenenfalls auch testen. Dies bedeutet gleichzeitig, dass nicht jeder Hype unüberlegt mitgemacht werden muss, um Kunden oder Investoren von der eigenen Innovationskraft zu überzeugen.
Sind technologische Potenziale erkannt, muss die Umsetzung unbedingt strukturiert erfolgen – top-down, allenfalls mit Rückschritten, über die Ebenen Geschäftsstrategie, Prozesse und Systeme. Bevor also das Tool (Ebene System) beschafft wird, muss unbedingt Klarheit über die Prozesse herrschen. Dabei gilt es nacheinander folgende zwei Fragen zu klären:
1. Wie arbeiten wir heute?
2. Wie wollen wir zukünftig arbeiten?
Beide Fragen beinhalten ein «wir», denn sie können nicht von einem einzelnen Prozessmanager beantwortet werden. Alle Prozessbeteiligten müssen diese Fragen gemeinsam beantworten. Bestenfalls werden auch die IT-Abteilung, Lieferanten und Kunden miteinbezogen.
Dass nicht gleich die zweite Frage angegangen wird, hat folgende Gründe. Prozesse sind in Unternehmen oft nicht sichtbar. Mitarbeitende sind sich möglicherweise nicht bewusst, dass sie zu einem Prozessteam gehören. Indem beobachtet wird, wie heute gearbeitet wird, werden alle Beteiligten miteinbezogen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden sichtbar und das Prozessteam wird für Veränderungen sensibilisiert. Potenziale für Verbesserungen werden erkannt, und die Bereitschaft für gemeinsame Veränderungen steigt.
Sind die beiden Fragen beantwortet bzw. die Prozesse definiert, bestenfalls in einer Prozess-Engine abgebildet, kann die Umsetzung erfolgen. Die definierten Prozesse beinhalten die funktionalen Anforderungen an das zu beschaffende IT-Tool. Erst jetzt, nach dieser Vorarbeit, geht es an die Evaluation eines möglichen Tools – natürlich unter Berücksichtigung weiterer Anforderungen wie z.B. Integration in die bestehende bzw. zukünftige IT-Landschaft, Kosten, Lieferantenmerkmale usw. Wichtig ist in jedem Fall, dass das Tool Flexibilität bei der Anpassung und Einführung neuer Prozesse erlaubt.
Wurden die Prozesse bei der Beantwortung der beiden Fragen standardisiert mit BPMN (Business Process Model and Notation) dargestellt, kann die Implementierung im Tool rasch erfolgen.
Die dargestellte Vorgehensweise schliesst agile bzw. nutzerzentrierte Methoden nicht aus. Bei der Beantwortung der zweiten Frage kann beispielsweise die Design-Thinking-Methode angewendet werden. Bei der Umsetzung können die Prozesse iterativ implementiert und verbessert werden. Nach der Einführung des Tools sollten Anpassungen besser mit einem agilen Ansatz erfolgen. Dabei kann von Nutzern und Prozessbeteiligten auf iterative Weise regelmässig Feedback eingeholt werden, was zu weiteren Optimierungen führt.
Wurden die Prozesse in BPMN standardisiert dargestellt, so können diese flexibel und im Rahmen eines agilen Ansatzes kontinuierlich angepasst und weiterentwickelt werden.
Bevor Sie das nächste Mal in Erwägung ziehen, ein IT-Tool zu beschaffen, denken Sie daran «das Pferd nicht am Schwanz aufzuzäumen». Digitalisieren können alle – mit Erfolg jedoch nur wenige!